Auch das Projekt „Maurice-Halbwachs-Bibliothek Lichtenberg“ von Leon Steffani und Florian Gick von der UdK Berlin wurde beim Concrete Design Competition 2017/18 TACTILITY mit einem Preis ausgezeichnet. Inmitten eines rauen Industriegebiets schafft der Entwurf einer 24-Stunden-Bibliothek zum Schwerpunktthema Erinnerungsforschung einen sozialen und intellektuellen Treffpunkt. Mit schlichten, einprägsamen Mitteln entsteht ein charaktervoller Ort als Rahmen für die Auseinandersetzung mit dem Erinnern und dem kollektiven Gedächtnis. Von der Jury besonders hervorgehoben wird die Konstruktion des Gebäudes: Ein skulpturales Raumtragwerk aus Beton, das fast museal anmutende Räume schafft und gleichzeitig auf poetische Weise klassische Industriearchitekturen zitiert.

Der für die Bibliothek gewählte Standort ist ungewöhnlich: Die Verfasser platzieren das Gebäude zentral auf einem großen, wild bewachsenen Grundstück in einem unwirtlichen Industriegebiet in Berlin-Lichtenberg, auf dem sich bislang nur ein einsam in die Höhe ragender Funkmast befindet. Die Stahlkonstruktion wird im Sinne eines Artefakts auf dem Vorplatz der Bibliothek erhalten und als identitätsstiftendes Element in den Entwurf einbezogen. Dessen konzeptioneller Kern ist die Thematisierung räumlicher Übergänge und Grenzen als besondere Momente des Gleichgewichts zwischen zwei Spannungsfeldern. So soll das Bibliotheksgebäude vermitteln zwischen dem öffentlichen Grundstück und einem geschützten Garten, der hufeisenförmig von einer hohen Mauer gefasst wird. Es ist im Sinne einer prägenden räumlichen Identität schlicht und raffiniert zugleich gestaltet.

Sein weit gespanntes, skulpturales Hallentragwerk aus vorgefertigten Betonelementen erinnert an klassische Industriearchitektur und interpretiert die Form des Shed-Dachs neu: Die Dachstruktur aus vorgespannten Y-Trägern bildet streifenförmige, horizontale Oberlichter aus, über die das Licht trichterartig in den Innenraum mit seinen linear angeordneten Lesetisch- bzw. Magazinreihen fließt. Zur einen Gebäudeseite hin schließen die Y-Träger als raumhohe, runde Nischen ab, die am Ende jeder Raumscheibe einen geschützten kleinen Rückzugsraum schaffen. Zur anderen Seite werden die Träger auf sich V-förmig verjüngenden Wandscheiben aufgelagert, die einen räumlichen Filter zwischen der Eingangshalle und dem Lesesaal bilden.

Eine weitere Stärke sieht die Jury in der Materialisierung des Entwurfs, auch wenn hinsichtlich der Ausbildung der Wärmedämmung und der Fügung der Bauteile einige Fragen offen bleiben: Mit einer Kerndämmung und einer außenseitigen Beschichtung versehen, prägen die Sichtbetonelemente die innere und äußere Erscheinung des Gebäudes. Durch Zuschläge von Marmorsand und Farbpigmenten nahezu weiß, verleiht der Beton dem Gebäude auf dem glatt mit schwarzem Gussasphalt belegten Grundstück einen stark objekthaften Charakter. Die Dimension seiner Bauteile lässt es schwer und maßstabslos wirken. Es entsteht ein eigenwilliger, atmosphärisch poetischer Ort, der sich klassischen städtebaulichen und bautypologischen Kategorien entzieht.