Aus über 100 Einreichungen wählte die Jury des Concrete Design Competition 2017/18 TACTILITY sieben Projekte, die mit Preisen und Anerkennungen ausgezeichnet wurden. Wir stellen sie hier alle ausführlich vor. Den Anfang macht die Arbeit „Taktiles Wohnen“ von Hanna Albrecht von der TU München. Ihr Entwurf eines integrativen Wohnprojekts für blinde und sehbehinderte Menschen in München schafft eine Architektur, die nicht visuelle, sondern haptische Qualitäten in den Mittelpunkt stellt. Auf Grundlage von detaillierten Materialstudien mit Beton entwickelte sie eine beeindruckende Antwort auf die Frage, wie Räume mit allen Sinnen wahrgenommen werden können und welche Rolle dabei das Material spielt. Damit gelang ihr ein hervorragender Beitrag zum Wettbewerbsthema TACTILITY, der die Jury von der Themenstellung und Herangehensweise über den gestalterischen Entwurf bis in den Maßstab 1:1 und die Darstellung der Ergebnisse rundum überzeugte.

Das Projekt zeigt architektonische Mittel auf, mit denen ein unterstützendes Wohnumfeld für sehbehinderte und blinde Menschen geschaffen werden kann. Diese leben mit einer verzerrten Wahrnehmung und müssen sich ihre Umwelt mosaikhaft und mithilfe ihres Tastsinns erschließen. Die wenigsten von ihnen sehen gar nichts – meist leben sie in einer Welt von Schatten, Licht und farbenhaften Umrissen. Wie sie verschiedene Raumsituationen wahrnehmen, vermittelt die Projektverfasserin sehr eindrücklich in ihren Darstellungen.

So nehmen Menschen mit verschiedenen Sehbehinderungen die entworfenen Raumsituationen wahr: Der zentrale Raum mit Diabetischer Retinopathie, das Schlafzimmer mit Grauem Star, das Wohnzimmerzimmer mit Retinitis Pigmentosa

Der vorgeschlagene Wohnkomplex aus zwei Gebäuderiegeln liegt abgeschirmt im Garten eines geschlossenen innerstädtischen Blocks. Ankommende Bewohner werden durch verschiedene taktile Zonen geführt wie bei einer einstudierten Choreografie. Dabei kommt als zentrales Material Beton zum Einsatz, der mit unterschiedlichen Formen und Oberflächenstrukturen haptisch erfahrbar gemacht wird und die Menschen leitet. Bereits in der glatt geschalten Fassade des Gebäudesockels ist bis zu den Hauseingängen ein fugenartiges Leitsystem integriert. Eine in den Beton integrierte Messingleiste führt nun durch den Hausflur bis in jede Wohnung, wo sie mal zum Geländer, mal zum Türgriff wird und Elemente wie Lichtschalter und Steckdosen integriert.

Auch im Inneren der Wohnungen bildet Beton das Basismaterial und schafft die nötige haptische Ruhe. Lichtschächte bzw. Oberlichter vermeiden blendendes Licht und erzeugen variierende Lichtatmosphären in den einzelnen Räumen, die außerdem durch verschiedene in den Beton eingelassene Bodenbeläge definiert werden. Hell-Dunkel- und Farb-Kontraste zeigen Schwellen an und ermöglichen ein grobes Raumverständnis. Sorgsam durchdachte Details wie Schattenfugen und Betonstreifen am Boden, die Wände oder Übergänge zu anderen Räumen ankündigen, überzeugen mit ihrer hohen gestalterischen Qualität besonders. Teilweise in Modellstudien im Maßstab 1:1 entwickelt, bringen sie die oft unterschätzten taktilen Qualitäten des Materials eindrucksvoll hervor.